DIE SNB ERNEUT IM KRISENMODUS: IST MARTIN SCHLEGEL GEWAPPNET?

Trump, Stahl-Franken, Negativzins-Gefahr bedeuten Krisenzeit für die Nationalbank. Und mittendrin ein neuer Chef. Kann er das? Und: Wer ist er?

Notenbanken dürfen in diesen Zeiten der rasanten Umwälzungen als letzte Bastionen der Tradition gelten: Ihre Präsidenten (Frauen bleiben die Ausnahme) tragen noch immer durchgehend Krawatten, selbst am Freitagnachmittag. Und jeder hat eine Doktorarbeit verfasst – mindestens.

Paradebeispiel ist auch hier Thomas Jordan. Der langjährige Nationalbank-Kapitän erstellte nach dem Ökonomiestudium in Bern als Assistent in vier Jahren ein 342-seitiges Werk, das via 759 Formeln die Schuldenkrise der Eurozone prophezeite. Der Titel: «Seigniorage, Defizite, Verschuldung und Europäische Währungsunion». Hinterher ging er für seine Habilitation drei Jahre nach Harvard – und dann 27  Jahre zur Nationalbank. Er war der Beweis, dass es sie tatsächlich gibt: Ökonomen aus Leidenschaft.

Sein Vorgänger war da anders. Philipp Hildebrand kam als Quereinsteiger in die technokratische Notenbankwelt, er hatte in Oxford ein einjähriges Doktorat in internationalen Beziehungen erworben. Der Titel: «International Environmental Politics in the Case of the European Union». Hildebrand war Dr. phil. statt Dr. oec., für Puristen ein Malus. Doch der Weltmann mit Stationen in New York, London oder Toronto glich ihn mit seinem globalen Netzwerk und seinem Welterklärer-Gen mehr als aus – noch heute bleibt er hier in der Schweiz unerreicht.

Hildebrand ging 2008 bei der UBS-Rettung weit über das SNB-Mandat hinaus und verhängte 2011 in amerikanischem «Yes we can»-Modus einen Mindestkurs zum Euro. Jordan schaffte ihn dreieinhalb Jahre später ab und klebte bei der CS-Rettung so dicht am SNB-Mandat, dass ihn selbst manche Banker der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigten, was seinem sonst so makellosen Ruf kleine Haarrisse versetzte. Es war – zugespitzt formuliert – der ewige Kampf, der sich schon bei den Doktorarbeiten zeigte: Pragmatiker gegen Dogmatiker. Und das führt zu einer für die Schweizer Wirtschaft elementaren Frage: Wo steht Martin Schlegel?

Der noch immer neue Nationalbank-Chef reichte 2009 seine Doktorarbeit an der Universität Basel ein. Der Titel: «Implementation of Monetary Policy and the Money Market». Da arbeitete er bereits sechs Jahre bei der Nationalbank. Sie ermöglichte es aufstrebenden Nachwuchskräften, berufsbegleitend eine Dissertation zu verfassen. Die 97-seitige Arbeit enthält drei Essays, zwei davon verfasste Schlegel in Zusammenarbeit mit seinem damaligen Kollegen Sébastien Kraenzlin, heute Mitglied im erweiterten SNB-Direktorium. Der allein von ihm verfasste Essay umfasst 27  Seiten und behandelt die Anreizsysteme für Banken, den Referenzzinssatz Libor zu manipulieren. Es war zwei Jahre vor Bekanntwerden des Libor-Skandals, bei dem inklusive UBS viele grosse Namen mit ihren Täuschungen aufflogen, eine fast schon prophetische Arbeit.

Dennoch tritt man dem 47-Jährigen kaum zu nahe mit der Feststellung: Die gleiche Passion für Ökonomie wie bei Jordan strahlt nicht durch diese Seiten. Gewiss, das System hatte sich geändert – statt einer mehrjährigen Arbeit genügten drei Essays, zwei davon mit einem Co-Autor. Es zählte die Qualität, und die stimmte: Schlegel erhielt die Bestnote Summa cum laude. Aber eine Arbeit, die wie Jordans Grosswerk die Ökonomie-Bibliotheken ziert, war es kaum.

Flexibler als Jordan

Die enge Verbindung zu Jordan zeigte sich auch hier: Als Doktorvater wirkte der renommierte Basler Ökonomieprofessor Peter Kugler – und als Co-Referent Thomas Jordan, der damals das für den Geldmarkt zuständige III. Departement der Nationalbank leitete, in dem auch Schlegel arbeitete. Kleine, feine Schweizer Ökonomenwelt: Kugler war bereits Co-Referent bei dem grossen Berner Geldtheoretiker Ernst Baltensberger, als dieser Jordans Doktorarbeit betreute. Schlegels Rangierung auf dem Dogmatik-Pragmatismus-Spektrum: entschieden in der Mitte – Dr. oec. zwar, aber sicher flexibler als sein Vorgänger. «Thomas war mit der Nationalbank und der Makroökonomie verheiratet», sagt ein Professor, der beide länger erlebt hat. «Martin hat noch ein Leben ausserhalb.»

Schlegel, im Amt seit dem 1. Oktober, tastet sich an die grosse Aufgabe heran. Die Medienanfragen türmen sich, doch die ersten drei Monate trat er gar nicht auf. Ein 30-minütiger Talk in der SRF-Sendung «Eco» Ende Januar, dann das erste grosse Interview im «Tages-Anzeiger» Anfang März. Den zurückhaltenden Duktus der Technokraten-Kaste beherrscht er bereits bestens, der Mensch hinter der Fassade wird kaum sichtbar. «Wir sind beide Vegetarier und mögen Rockmusik», hatte seine – nur formale – Dienstherrin Karin Keller-Sutter in ihrer Funktion als Finanzministerin den neuen starken SNB-Mann im Juni vorgestellt. Doch der gab im «Eco»-Interview nur von sich preis, dass er Beethovens Neunte in Dauerschleife höre. Botschaft: Die Rockmusik liegt hinter mir.

Es ist eine fast unmenschliche Nachfolge. Wohl nie in der bald 120-jährigen Geschichte der Frankenbastion folgte der neue Präsident auf einen derart überlebensgrossen Vorgänger. Mit enormem Fachwissen, hoher Integrität und durchaus starkem Machtwillen hatte «Big Thomas» Jordan die Institution mehr als zwölf Jahre geprägt und durch heftige Stürme gelotst. Dass er Schlegel als seinen Nachfolger vorschlug, darf da als Gütesiegel gelten, ist aber auch eine Bürde für den schmächtigen Zürcher, der auf den 1,90-Meter-Hünen folgt: Ändert er nichts, gilt er als Abziehbild. Aber Veränderung nur zur Abgrenzung? Wenig überzeugend.

Wieder Krisenzeit

Der Zeitpunkt des Wechsels war gut gewählt – die sinkende Inflation hatte Ruhe verschafft. Jetzt ist wieder Krisenzeit. Die Währungsbastion ist noch immer die stärkste Institution der Schweiz, herrschaftlich thronend über Berner Polit-Klein-Klein und Zürcher Finanz-Nahkampf. Doch die Bilanzsumme stieg zuletzt wieder auf mehr als 850 Milliarden und liegt damit über dem Bruttoinlandsprodukt, was die öffentlichen Erregungspegel aber weniger anschwellen lässt als bei der UBS. Die Erfolgsrechnung flattert in den Stürmen der Finanzmärkte: 132  Milliarden Verlust vor drei Jahren, 82  Milliarden Gewinn letztes Jahr. Jetzt droht durch die massive Dollarabwertung und die Fluchtbewegung in den Franken wieder ein Grossverlust. Die Gewinnausschüttung an die Kantone wackelt.

Dass Schlegel bei seinem ersten grossen Auftritt Ende Jahr den Leitzins gleich um 0,5 Prozentpunkte senkte und im März trotz bereits massiv gestiegener Unsicherheit mit 0,25 Prozentpunkten nachlegte, ruft bereits die Kritiker auf den Plan. «Wenig Verständnis» habe er, verkündete der Zuger Anlageveteran Felix Zulauf via «NZZ»: Kaum Vorteile für die Wirtschaft, aber die Sparer seien die Leidtragenden. Die Kritik steigt auch, weil der Zinsabstand zur EZB, sonst stets ein Hauptgrund für Senkungen, derzeit ohnehin gross ist. «Die Nationalbank hat ihr Pulver zu früh verschossen», urteilt auch der Ökonom und frühere SNB-Mitarbeiter Adriel Jost. Das Drohszenario der Negativzinsen lastet schon sehr früh auf Schlegels Amtszeit. Dass er es selbst offensiv anspricht, signalisiert zwar Offenheit, schürt aber den Unmut bei Privatanlegern und Banken.

Und dann natürlich, über allem: der irrlichternde US-Präsident, der das globale Handelssystem frontal attackiert. Schon Jordan musste sich 2020 als Währungsmanipulator anschwärzen lassen. Doch das könnte nur ein laues Lüftchen gewesen sein im Vergleich zu dem Sturm, der jetzt droht. Da stellen sich nicht wenige Verantwortungsträger in der Schweizer Wirtschaft die Frage: Kann der Neue das? Und: Wer ist er überhaupt?

Dass Martin Reto Schlegel einmal an der Spitze der mächtigsten Wirtschaftsinstitution des Landes stehen würde, war nicht in seinem Elternhaus angelegt. Sein Vater Mario Schlegel war in Chur aufgewachsen, die Familie zog nach Kloten, und der Vater wurde nach einer Lehre zum Elektromechaniker zu einem der führenden Psychologen der Schweiz: Er studierte Biologie an der ETH, promovierte dort in Anthropologie und Verhaltenswissenschaften und eröffnete später im Zürcher Kreis 6 eine eigene Praxis für analytische Psychotherapie. Dazu engagierte er sich bei der Schweizer Charta für Psychotherapie, veröffentliche zahlreiche Forschungsarbeiten und ist heute noch mit 80 Jahren am C.G.-Jung-Institut als Dozent tätig. Auch die Mutter arbeitete als Psychologin, mit seinem Bruder wuchs Martin Schlegel in einer Stadtwohnung unweit der Praxis seines Vaters auf.

Im Quartier Unterstrass ging er in die Primarschule, es folgte das Gymnasium Rämibühl, das für seine mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung bekannt war, doch Schlegel wählte den Typus B – Latein. Besonders ausgeprägt: sein Musikinteresse. Er spielte Keyboard und später vor allem E-Bass in verschiedenen Bands und schuf eigene Kompositionen. Noch heute hat er oft nach grösseren Anspannungen einen kleinen Drumcomputer griffbereit, auf dem er musikalische Rhythmen programmiert – zwei Minuten mit dem Gerät, so sein Mantra, seien neurologisch wirksamer als jeder Power Nap.

Job-Interview mit Jordan

Es war eine Jugend im links-urbanen Milieu, überbezahlte Banker waren, wenn überhaupt wahrgenommen, ein Feindbild, das Velo das standesgemässe Fortbewegungsmittel, und auch heute noch nimmt er es auf dem Weg zur Arbeit – er wohnt mit seiner Frau und drei schulpflichtigen Kindern weiter unweit der Wohnung, in der er aufgewachsen ist. Mit einem Salär von mehr als einer Million Franken ist er zwar anständig besoldet, doch ein Wegzug aus Steuergründen in einen anderen Kanton ist undenkbar – dass Besserverdienende angemessen Steuern zahlen, ist für ihn auch eine soziale Verpflichtung. Im Alter von zwölf Jahren wurde er Vegetarier, aus Respekt vor den Tieren, Ende der Achtziger vielleicht in seinem Umfeld normal, aber kaum darüber hinaus. Nach der grossen Karriere sah auch seine erste Studienwahl an der Universität Zürich nicht aus: Geschichte und Psychologie weist der Lebenslauf in seiner Doktorarbeit aus. Ökonomie? Nur im Nebenfach.

Doch das durchaus Spielerische, das seinen Lebensweg bis dahin auszeichnete, verschaffte ihm auch einen speziellen Zugang zur Ökonomie, die zwei Jahre nach Studienbeginn sein Hauptfach wurde, kombiniert mit seiner psychologischen Vorbildung. Mit Professor Ernst Fehr verfügte die Universität über eine Koryphäe in einer jungen Disziplin, die so gar nichts mit formalistisch überladener Makroökonomie zu tun hatte: Verhaltensökonomie stellt das Modell des rationalen Homo oeconomicus infrage, etwa bei Anlageentscheiden. Schlegel war begeistert und half Fehr als Assistent bei Experimenten. Auch die Lizentiatsarbeit schrieb er bei ihm.

Dass er damit kaum dem klassischen Anforderungsprofil der SNB entsprach, musste er bei seiner ersten Bewerbung feststellen: Er bewarb sich in der Statistikabteilung, doch auf der Zahlenschiene gab es bessere Kandidaten. Aber immerhin: Kurze Zeit später erhielt er einen Anruf, ob er Interesse habe an einem Praktikum in der Forschungsabteilung. Er ging zu einem Job-Interview, auf der anderen Seite des Tischs sass der damalige Leiter der Forschungsabteilung: Thomas Jordan.

Acht Positionen in 21 Jahren

Es war eine fast revolutionäre Zeit. Die Nationalbank hatte gerade ihr neues geldpolitisches Konzept eingeführt: Die Geldpolitik wurde an Inflationsprognosen statt vager Geldmengenziele ausgerichtet, daraus entstanden die geldpolitischen Lagebeurteilungen, die auch heute noch die Währungsbehörde im Drei-Monats-Rhythmus takten. Es war die Maschine, die Jordan erst als Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung aufbaute und später in seinen Präsidialjahren perfektionierte. Schlegel bekam das Praktikum, und als Jordan ins III. Department wechselte, ging er mit – jetzt mit einer Festanstellung.

Es begann sein Marsch durch die Institution, die Basis seines Aufstiegs: Niemand in der aktuellen Führung kennt die Nationalbank so gut wie er. Acht Positionen durchlief er in 21 Jahren, manchmal bewarb er sich selbst für offene Positionen, manchmal wurde er gefragt. Besonders in turbulenten Zeiten war er vorn dabei: In der Finanzkrise übernahm er etwa die Leitung des Devisenhandels und sammelte so elementare Handelserfahrung. Es war Schlegel, der die SNB-Bills entwickelte – eigene Geldmarktpapiere, über welche die Nationalbank Liquidität aus dem Markt nehmen konnte. Dass er als Zögling Jordans dastand, lag vor allem an einem Zitat, das er selbst der «NZZ» gegeben hatte. «Ich war der Praktikant von Thomas Jordan. Und ich bin es irgendwie immer noch.»

Wer ihn besser kennt, sieht hier vor allem ein Zeichen von gern gepflegter Selbstironie, begleitet von einem leichten Anziehen der Mundwinkel. Natürlich hat ihn Jordan gefördert, aber er hatte sich freigeschwommen und stand durch viel Einsatz und hohe Flexibilität längst auf eigenen Füssen. Jordan war nach der Übernahme des Vizepräsidiums 2010 nicht mehr Schlegels direkter Chef und pflegte mit ihm wie mit allen Mitarbeitenden keine Kontakte abseits der Arbeit – zum Apéro an Schlegels Hochzeit etwa kam nicht er, sondern Hildebrand. «Martin Schlegel hat ein ausgeprägtes ökonomisches Verständnis und verfügt über umfassende Kenntnisse aller Aufgabengebiete der SNB», betont Jordan dann auch gegenüber BILANZ. «Er bringt somit ideale Voraussetzungen mit, um die Nationalbank erfolgreich zu führen.»

2016 hatte Schlegel die Leitung des einzigen Aussenbüros in Singapur übernommen. Der entscheidende Karriereschritt kam zwei Jahre später – durch einen speziellen Umstand. Thomas Wiedmer, langjähriges Mitglied im erweiterten Direktorium, kündigte gar nicht SNB-like sehr abrupt, Gerüchte über unbotmässiges Verhalten am Arbeitsplatz hielten sich hartnäckig. Eigentlich wollte die Familie Schlegel noch in Singapur bleiben. Doch die Zentrale rief – und mit seiner Rückkehr folgte gleich die zentrale Weichenstellung: Jordan machte Schlegel zu seinem Stellvertreter und gleiste langsam seine Nachfolge auf – wenn er noch eine VR-Karriere nach der SNB wollte, wurde es Zeit. Am 30. September 2024 war Schluss.

Neuer Stil

Es herrscht vor allem ein neuer Stil. Schlegel bietet allen Mitarbeitern das Du an und lässt den einzelnen Bereichen mehr Freiraum. In die Erziehung der drei Kinder ist er eingebunden, soweit es der Job zulässt. Dass seine Frau Nicole Brändle, eine hoch qualifizierte Ökonomin mit CFA- und MBA-Abschlüssen, ihren Posten als Verbandschefin bei Hotelleriesuisse abgibt, um medial keine Angriffsfläche zu bieten, war ein schwieriger gemeinsamer Prozess.

Der Traditionalist Jordan hatte alle Begehrlichkeiten mit breitem Rücken abgeblockt: Protokoll-Offenlegungen, Klimainvestments, die Gründung eines Staatsfonds. Noch läuft Schlegel voll auf dessen gut geölter Maschinerie. Dass er etwa bei der UBS-Regulierung Finma und Finanzdepartement mit der Forderung nach einer massiven Eigenkapitalerhöhung folgt, ist der einfache Weg. Aber es gäbe eine bessere Lösung: die Begrenzung der Investmentbanking-Assets auf beispielsweise 30  Prozent. Sein Vorvorgänger Hildebrand spricht sich bereits dafür aus.

Als wahrscheinlich darf jedoch gelten: Die Nationalbank ist bei Schlegel und seinem Team in sicheren Händen. Krise kann er. Allein in den zehn Tagen nach dem vermeintlichen «Liberation Day» traf sich das Direktorium viermal zu Sondersitzungen. Mit den neu Bestellten Petra Tschudin im III. Department und Sébastien Kraenzlin im erweiterten Direktorium arbeitet er seit Jahren zusammen – auch sie promovierten bei dem Basler Professor Kugler.

Vielleicht gibt es angesichts der heraufziehenden Stürme sogar einen Punkt, den er Jordan voraushat: Seinem Vorgänger fehlte in kritischen Phasen zuweilen die Anerkennung für seine Arbeit. Schlegel kultiviert dagegen eine gewisse Distanz zu sich selbst. Da lässt sich vermuten: Er hat ein dickeres Fell. Könnte er brauchen.

2025-04-24T08:07:03Z