Der Inditex-Chef gibt seltene Einblicke in den Modekonzern. Ein Ortstermin im Nordwesten Spaniens – auf der Suche nach der Erfolgsformel.
Und dann ist der Chef auf einmal da: Óscar García Maceiras biegt um die Ecke, die Hand ausgestreckt, ein Lächeln im Gesicht: «Welcome to Inditex.» Der Konzernchef trägt Betriebsuniform: graue Bundfaltenhose und weisses Hemd von Zara, dunkelblaues Jackett und schwarze Lederschuhe von Massimo Dutti. Weniger galant klingt dagegen sein Arbeitsplan: «Jeden Tag ab 00.01 Uhr kämpfen wir gegen die Verkäufe vom Vortag», sagt er schneidig: «Nichts ist selbstverständlich.»
Maceiras plaudert nur ein paar Minuten, er ist spontan und unangekündigt zu der Besuchergruppe gestossen, eigentlich müsste er längst weiter. Ein Flug nach Neapel steht an, um einige Filialen seiner Handelsketten in Süditalien zu inspizieren: «Die wahre Welt berühren, neben PowerPoint-Präsentationen.»
Schon macht Maceiras sich auf, rein in die echte Welt, raus aus der Inditex-Utopie, die seine Mitarbeitenden hier, in einem vorwiegend weiss gehaltenen Kellergeschoss, errichtet haben. Schaufenster und Musterfilialen der Modekette Zara finden sich da, in denen der Konzern mit Ausleuchtung und Duft des idealen Geschäfts experimentiert; in einer Ecke hämmern zwei Mitarbeiter Dekosteine auf eine Platte, andere zupfen die Kleider von Schaufensterpuppen zurecht.
Der Gebäudekomplex, unter- und oberirdisch durch Gänge und gläserne Brücken verbunden und mit Grünflächen durchzogen, erstreckt sich über 800'000 Quadratmeter. Das entspricht ungefähr einem Drittel der Fläche von Monaco. Das gigantische Areal passt zur Bedeutung des in insgesamt 213 Ländern vertretenen Konzerns. Hier, in der galizischen Küstenstadt Arteixo, 20 Autominuten von A Coruña entfernt, sitzt der Gigant der Modeindustrie, vor allem bekannt für die Modeketten Zara, Bershka und Massimo Dutti. Mit fast 36 Milliarden Euro Umsatz ist Inditex nach LVMH (Louis Vuitton, Christian Dior) und Nike das drittgrösste Modeunternehmen der Welt. Vor allem die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit beeindruckt. Seit 2015, trotz Corona, Inflation und des Aufstiegs der chinesischen Konkurrenten Temu und Shein, hat Inditex den Umsatz verdoppelt. Während andere Massenanbieter wie H&M, Uniqlo und Primark straucheln, scheint Inditex unverwundbar, «eine extrem effiziente, gut geölte Maschinerie», sagt Arndt Brockmann, ehemaliger Zara-Deutschland-Chef. Achim Berg, langjähriger Modeexperte bei McKinsey, lobt: «Zara ist der absolute Ausreisser, der es geschafft hat, in der preislichen Mitte dauerhaft zu reüssieren.»
Bleibt die Frage, wie Inditex diese Dominanz erlangt hat – und ob die bewährten Rezepte genügen, um diese Stellung zu festigen. Erste Weichenstellungen sind erkennbar: Die Preise steigen, die Zahl der Läden sinkt, während die Verkaufsflächen wachsen – und an der Inditex-Spitze agieren seit rund drei Jahren zwei Neue.
Ende 2021 wurde Óscar García Maceiras zum neuen Inditex-CEO berufen. Die Personalie sorgte in der Branche für Erstaunen, denn der Galizier Maceiras arbeitete zunächst als Staatsanwalt, später in führenden Positionen bei den spanischen Banken Pastor und Santander. Er trat an die Stelle von Pablo Isla, der viele Jahre bei Inditex die Position des CEO wie auch die des Verwaltungsratschefs bekleidet hatte. Wenige Monate nach Maceiras’ Berufung gab Isla auch seinen zweiten Posten ab. Seitdem steht Marta Ortega Pérez an der Spitze des Inditex-Verwaltungsrats. Die 40-Jährige ist das jüngste von drei Kindern des legendären Unternehmensgründers Amancio Ortega. Isla ist längst beim Schweizer Nahrungsmittelriesen Nestlé eine zentrale Figur im Verwaltungsrat.
Ortega startete im Alter von 14 Jahren als Laufbursche für ein Herrenwäschegeschäft in A Coruña, 1963 eröffnete er zusammen mit seiner ersten Frau Rosalía Mera eine Schneiderei. 1975 folgte das erste Zara-Geschäft in A Coruña. Heute ist Ortega laut «Forbes» mit 116 Milliarden Euro Vermögen der elftreichste Mensch der Welt. Er hält rund 60 Prozent der Anteile an Inditex.
Die Öffentlichkeit meidet Ortega, wo es geht. Zwar ist Inditex seit 2001 an der Börse gelistet, doch mehr als das Quartals-Pflichtprogramm gibt Inditex kaum preis. Amancio Ortega, von dem es heisst, dass er ein «normales Leben» in A Coruña führe und die Einheimischen wüssten, wo er wohne, gibt keine Interviews.
Dass Inditex nun, im Herbst 2024, ausnahmsweise einer Handvoll Journalisten Einblicke in die Zentrale in Galizien gewährt, führen Beobachter auf Marta Ortega Pérez zurück. Sie hat ein entspannteres Verhältnis zur Öffentlichkeit, war sie doch schon Jahre vor Beginn ihres Engagements im Konzern Thema in der Boulevardpresse, vor allem wegen ihrer ersten Karriere als professionelle Springreiterin. Und sie plaudert bisweilen offen daher: «Ich mag Zahlen im Allgemeinen nicht besonders», gestand sie vergangenes Jahr der «Financial Times». Und dem «Wall Street Journal» erzählte sie von ihren Ängsten in ihrer ersten Woche als Verkäuferin in der Zara-Filiale in Londons King’s Road anno 2007: «Ich dachte, das werde ich nicht überleben.»
Auch das scheinbar zufällige Erscheinen von CEO Maceiras passt zur vorsichtigen Öffnung des Konzerns. Der ist zwar seit je konservativ verschwiegen, nicht aber unbedingt hierarchisch starr organisiert. Jede der sieben Inditex-Marken sei selbst verantwortlich für ihre Designs und Produkte, «und das gilt auch für die einzelnen Produktteams innerhalb dieser Marken», sagt Maceiras.
Möglichst einheitlich soll hingegen der Informationsstand im Unternehmen sein. Welche Hosen, Shirts, Blusen und Pullover in welchen Ländern gerade gut ankommen, müssten alle Beteiligten so schnell wie möglich wissen, erklärt Maceiras. Jeder Storemanager könne über die digitale Plattform des Konzerns jederzeit in Echtzeit überprüfen, welche Kleidungsstücke in welchem Laden und in welcher Farbe und Grösse wie gut laufen. Dank des flächendeckenden Einsatzes von RFID-Chips in allen Kleidungsstücken ist das komplette Inditex-Sortiment digital erfasst und jederzeit verfolgbar. Auch das lässt Rückschlüsse zu: Ein Kleid wurde 100-mal in die Umkleide genommen, anschliessend aber nur fünfmal gekauft? Dann hat es wohl einen Passfehler.
In einem Grossraumbüro im zweiten Stock des Hauptgebäudes werden Dimension und Tempo von Inditex sofort greifbar. Auf einem Monitor laufen perma-nent Euro-Summen, Ländernamen und Prozentzahlen ein. Daneben erscheinen Fotos von Hosen, T-Shirts und Pullovern. Alle paar Sekunden erneuert sich das Bild. Es ist die globale Verkaufsanalyse von Zaras gesamter Männermodekollektion, im Vergleich zum gleichen Tag im Jahr 2023. Wie verkauft die Türkei bislang? Plus 41,1 Prozent. Polen und Hongkong – ebenfalls im Plus. Indien und Griechenland werden rot angezeigt – minus 5,5 und minus 12,9 Prozent.
Rund um den Bildschirm sitzen und stehen Dutzende Angestellte an Computern und vor Pinnwänden, an denen Fotos von Kollektionen angeheftet sind. Die gesamte Etage, schätzungsweise zwei Fussballfelder gross, ist ein einziger Grossraum, ähnlich dem Handelsraum einer Grossbank. Getrennt werden einzelne Abschnitte, wenn überhaupt, nur durch die zahllosen Kleiderstangen, an denen Mäntel, Hemden und Jacketts hängen. Dennoch ist es erstaunlich leise.
Nebenan, im Bereich Musterherstellung von Zara Man, stehen grosse Drucker, die neue Entwürfe in Papier auswerfen. Auf Tischen werden die Prototypen anschliessend ausgebreitet, begutachtet und verbessert. Hier entstehen nahezu alle Kleidungsstücke des gesamten Inditex-Reichs. 700 Menschen widmen sich dem Design der Inditex-Produkte. Weitere 600 sind mit der Prototypentwicklung betraut. Auch sonst ist das Geschäft, gemessen an der weitgehend globalisierten Branche, erstaunlich lokal: Inditex produziert 50 bis 60 Prozent ihrer Ware zumindest zum Teil im näheren Umkreis der Zentrale. Grosse Produktionsstätten befinden sich in Portugal, der Türkei und Marokko. Von der Idee bis zum Moment, in dem ein Hemd im Laden liegt, so ein Inditex-Mitarbeiter, vergingen mitunter bloss drei bis vier Wochen.
Das ist wesentlich schneller als bei Wettbewerbern. «Der Standard in der Modebranche ist ein Vorlauf von neun bis zwölf Monaten für Kollektionen», sag Modeexperte Achim Berg, «die allermeisten Massenhersteller können also nur begrenzt modisch sein. Zara aber schafft es einfach schneller und intelligenter.» Zara, erklärt der frühere Deutschland-Chef Arndt Brockmann, habe seit Jahrzehnten ein im Kern bekanntes System perfektioniert. Ungefärbte Rohware wird zum grossen Teil in Asien 100'000-fach vorproduziert und nach Europa geliefert, wo es dann an aktuelle Trends und Entwicklungen angepasst wird. «Je nach Nachfrage handelt Inditex vor Ort: Ist gerade dieser bestimmte Blauton angesagt, wird ein grösserer Teil der vorhandenen Rohware schnell genau so gefärbt und in die Läden geliefert.»
Damit einher geht eine besonders flexible Logistik. Zunächst wird stets nur wenig Neuware auf die Läden verteilt. Dann wartet man die ersten Marktreaktionen ab, verschiebt die Ware gezielt dorthin, wo sie sich am besten verkauft. Dieses Last-Minute-System sorgt dafür, dass Zara-Outfits modischer erscheinen, zeitlich näher am neusten Trend liegen – dafür in der Herstellung allerdings auch einen Tick teurer sind. Um schneller zu sein als die anderen, setzt Inditex weniger auf Schiffstransporte und mehr auf Flugzeuge.
Doch die höheren Kosten holt Inditex wieder rein. Der Konzern nimmt schneller als andere alte Ware wieder aus dem Sortiment, reduziert so die Menge an Wühltischrabatten. Swetha Ramachandran, Portfoliomanagerin bei Inditex-Investor Artemis aus London, attestiert Inditex «eine gesunde Rentabilität bei Preisnachlässen unterhalb des Branchendurchschnitts». Die schnelle, flexible Beschaffung aus der Nähe ermögliche es dem Unternehmen, «den Verkauf zum vollen Preis zu maximieren und Rabatte zu begrenzen».
Insgesamt ist die Inditex-Hauptmarke Zara teurer als der grosse Wettbewerber H&M. Zwischen 2022 und 2024 stieg der Durchschnittspreis aller Zara-Artikel um 20 Prozent, wie die Datenanalysten der US-Firma Edited errechnet haben. H&M steigerte im selben Zeitraum den Durchschnittspreis um zwölf Prozent.
«Gerade im Vergleich mit H&M wird Zara mehr wie eine Premium- und Luxusmarke wahrgenommen und kann daher auch höhere Preise durchsetzen», sagt Sebastian Kemmler. Der frühere Werber, der vor elf Jahren in Berlin seine eigene Kreativagentur gründete, hat eine datengetriebene Messung entwickelt, um kulturelle Relevanz darzustellen.
Analog zur wissenschaftlichen Zitationsanalyse geht Kemmler der Frage nach: Wem folgen die Influencer? Dafür kann Kemmler auf eine Datenbank der drei Millionen einflussreichsten Influencer weltweit zurückgreifen. «Sowohl Zara als auch H&M machen es deutlich besser als die allermeisten deutschen Modemarken», sagt er. Zara aber rage noch einen Tick weiter hervor: «Die spielen fast in einer Liga mit Gucci und Balenciaga.»
Progressive Ausreisser und mutige Editionen, erklärt Kemmler, biete H&M eher in Submarken wie COS oder Arket. «Der Überschlag auf die Muttermarke H&M funktioniert kaum. Inditex dagegen fokussiert die Ressourcen auf die Hauptmarke Zara.» So sei in der Modeszene Zara fest mit der kulturellen Elite verbunden. Der US-Starfotograf Steven Meisel, Hauptfotograf für die italienische «Vogue», entwarf 2023 eine limitierte Edition für Zara – inklusive Ledermantel für 300 Euro.
Fabien Baron, Wegbegleiter von Andy Warhol, arbeitet für Zara, gestaltet Videoclips und verfeinerte das Zara-Logo. «Die sind in der breiten Masse eher unbekannt», sagt Sebastian Kemmler, «aber in der Szene haben diese Personen unglaubliche kulturelle Relevanz.»
Auch die schrumpfende Anzahl an Filialen gehört zur Konzernstrategie, erklärt Vorstandschef Maceiras: «Grössere, aber insgesamt weniger Stores. Wir wollen etwas flinker werden.» Statt knapp 7500 Stores wie noch 2018 gibt es heute weniger als 5700. Gleichzeitig ist die Quadratmeterzahl aller Inditex-Verkaufsflächen gewachsen. Zugleich nimmt die Bedeutung anderer Kommunikationskanäle zu, wie sich etwa in China zeigt. Von knapp 600 auf unter 200 hat man die Zahl der Läden dort besonders deutlich reduziert.
Im November vergangenen Jahres startete Inditex dafür ihr Liveshopping: In stundenlangen Livestreams, zu sehen auf Douyin, der chinesischen Version von TikTok, bekommen die Nutzer Laufstegshows zu sehen, Rundgänge durch die Umkleidekabine und den Make-up-Bereich. Ende September startete Zara Streaming mit den Models Cindy Crawford und Kaia Gerber in den USA und Europa.
Nicht nur Wettbewerber fragen sich: Was soll Inditex aufhalten? «Inditex ist hochprofitabel, die können sich die besten Standorte, die besten Digitalisierungskonzepte und Technologien leisten», sagt ein Branchenkenner, «das wirkt selbstverstärkend.» Das jüngste Halbjahresergebnis spricht Bände: Von Februar bis Juli steigerte Inditex die Umsätze um 7,2 Prozent auf 18,07 Milliarden Euro, der Gewinn vor Steuern legte 10 Prozent zu.
2025-01-19T16:54:50Z